Joachim Józef Benedykt Lelewel

 

(1786-1861), Historiker, Vater der polnischen Historiographie, Politiker, demokratischer Ideologe.
Die österreichische Familie Lelewel ließ sich im 18. Jahrhundert in der Nähe von Königsberg in Ostpreußen nieder. Der Großvater Heinrich Loelhoeffel de Loewensprung war Magister der Philosophie der Universität Wilna, Doktor der Medizin und höfischer Heilkundler August III. Der Vater Karol Maurycy, Jurist und Funktionär der Bildungsverwaltung im Herzogtum Warschau und Königreich Polen, erhielt am 18. Mai 1775 das polnische Indigenat und änderte seinen Nachnamen in Lelewel. Die Brüder Joachims waren: der Architekt und Politiker Jan Paweł (1796–1847) sowie Prot (1790–1884), napoleonischer Offizier und Abgeordneter des Sejms im Königreich Polen. Joachim Lelewel wurde am 21. März 1786 geboren und besuchte anfangs die Schule des Piaristenordens. 1804-1808 studierte er an der Universität Wilna, u. a. bei dem Philologen Gottfried Ernst Groddeck (zu seinen Studenten gehörten zahlreiche Mitglieder des geheimen Philomathenbundes, darunter der polnische Schriftsteller Adam Mickiewicz). Den Doktortitel erwarb er im Fernstudium an der Universität Krakau. 1811 erhielt er eine Anstellung beim Innenministerium in Warschau und widmete sich vor allem historischen Studien zum Mittelalter. Ab 1815 hielt er Vorlesungen zur allgemeinen Geschichte an der Universität Wilna und war Redakteur des gemäßigt liberalen „Tygodnik Wileński” (Wilnaer Wochenzeitung). 1818 wurde er Unterbibliothekar der Öffentlichen Bibliothek der Warschauer Universität. Weil er in Warschau jedoch keine breitere Anerkennung erfuhr, kehrte er nach drei Jahren nach Wilna zurück, wo er den Lehrstuhl für Geschichte übernahm. Seine Vorlesungen erfreuten sich bei den Studenten außerordentlicher Popularität, zu den Hörern gehörte u. a. Adam Mickiewicz. Nachdem Staatsanwalt Nikolai Nowosilcow ein Untersuchungsverfahren an der Universität Wilna eingeleitet hatte, musste Lelewel erneut nach Warschau gehen, wo er sich vor allem der Forschung widmete. Sein Bruder Prot brachte ihn in Kontakt mit der Patriotischen Gesellschaft. Bis zum Novemberaufstand 1830/31 schuf er die Grundlagen seiner historiographischen Konzeption, die auf der Anerkennung der Herrschaft des slawischen Volkes als ausgefeilte, fortschrittliche Form der Demokratie basierte. Als Historiker publizierte er zahlreiche Arbeiten und Artikel und wurde in Polen und im Ausland (auch in Russland) bekannt. Im Bereich der historischen Methoden war er Pionier: Er arbeite mit historischer Komparatistik, historischer Geographie und historischen Hilfswissenschaften (darunter Numismatik). Während des Novemberaufstandes 1830/31 leitete er die Arbeit des Revolutionsklubs und trug dazu bei, die Konservativen zu überzeugen. Mit wechselndem Erfolg versuchte er, zwischen den verschiedenen politischen Extremen innerhalb der Aufständischen zu lavieren. Nur ungern trat er der Regierung der Aufständischen bei. Nach der Niederlage des Aufstandes begab er sich nach Paris, wo er an der Spitze des Komitees der Polnischen Nation stand. Nach der Ausweisung durch die französischen Behörden siedelte er nach Brüssel über, wo er bis zum Ende seines Lebens blieb. In der belgischen Hauptstadt schrieb er für radikale Zeitung, schloss sich den Freimauern an und setzte sich für die Vereinigung der polnischen Emigrationskreise ein. Einen bezahlten Posten wollte er nicht annehmen, er führte ein Lebens als Verwahrloster und lebte von seinen wissenschaftlichen Publikationen. Im Mai 1861 brachten zwei Freunde den erkannten Lelewel in eine Klinik in Paris, wo er am 29. Mai verstarb. Er wurde auf dem Friedhof Montmartre beigesetzt und 1929 auf den Rasos-Friedhof in Wilna umgebettet.

[Quelle: Biogramm im Polski Słownik Biograficzny von Stefan Kieniewicz; Stanisław Szenic, Cmentarz Powązkowski 1790–1850. Zmarli i ich rodziny, Warszawa 1979])