Spiess
Die Warschauer Linie der Familie Spiess stammt aus Stettin. Ihr erster Vertreter Johann Melchior Spiess kam zusammen mit seiner Frau Anna Eisen 1796 als preußischer Beamter nach Warschau. Sein Sohn Heinrich Gottfried Spiess, ein in Deutschland ausgebildeter Apotheker, gründete um 1803 in Warschau in der Kozia-Straße ein Pharmaziegeschäft namens „Spiess und Rakoczy”. Nachdem er seinen Teilhaber ausbezahlt hatte, stellte er selber Arzneimittel her und begann 1823 im Dorf Tarchomin bei Warschau mit der Erzeugung von Wein- und Estragonessig. Sein dritter Sohn Ludwik Henryk Spiess (1820–1896) erweiterte die Produktion auf Farben, Lacke, Wachse, Pharmazie- und Kosmetikartikel sowie Kunstdünger. Die Produkte wurden nach Deutschland, Russland und Schweden exportiert. Beinahe zur gleichen Zeit gründete Heinrich Gottfried Spiess zusammen mit Ignacy Lesiński und Ferdynand Ulbricht neben dem Krasiński-Garten eine Mineralwasser-Trinkhalle. 1899 wurde der Pharmaziebetrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die Mehrheit der Anteile gehörte der Familie Spiess. Ab 1922 war die Firma unter dem Namen „Chemische Industriehandelsbetriebe Ludwik Spiess und Sohn AG“ mit etwa 800 Beschäftigten das größte Unternehmen dieser Branche in Polen. 1944 wurde die Fabrik durch Kampfhandlungen zerstört. Nach dem Krieg bauten die Söhne von Stefan Spiess (1849–1893) – Sohn von Ludwik Henryk – Ludwik (1872–1956) und Stefan Spiess (1879–1968) die Fabrik in Tarchomin wieder auf und nahmen die Produktion erneut auf. 1946 wurden sie von ihren Funktionen entbunden und die Firma verstaatlicht. Die damals geschaffenen Tarchominer Pharmaziebetriebe „Polfa” bestehen bis heute.
Die Familie Spiess förderte auch die Kultur. Stefan Kazimierz Jakub Spiess (1879–1968), der Enkel von Ludwik Henryk und Sohn von Stefan, ein Musik- und Kunstliebhaber, freundete sich in seiner Jugend mit dem später berühmten Komponisten Karol Szymanowski (1882–1937) und dem bekannten Dirigenten Grzegorz Fitelberg (1874–1953) an und unterstützte beide finanziell. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er beim polnischen Rundfunk. Der Familie Spiess ist es zu verdanken, dass die Warschauer Nationalphilharmonie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ihr erstes Konzert geben konnte. (TWŚ)
„Als ich Karol Szymanowski 1908 näher kennenlernte, war er mir sofort sehr vertraut. Ich traf ihn immer öfter und erkannte bald seine schwierige Lage. Er musste überaus bescheiden leben – von einem kleinen Betrag, den sein Bruder Feliks ihm nach Warschau schickte, welcher den Familienbesitz in Tymoszówka bewirtschaftete. Als ich das sah, gab ich Karol ein Zimmer in meiner Wohnung in der Matejko-Straße und nahm ihn gewissermaßen unter meine Obhut. In dieser Zeit kam er fast jeden Tag nach den Proben in der Philharmonie, zu denen er so gern ging (also oft auch mit Fitelberg), zum Frühstück zu mir oder zu meiner Mutter, die ihn liebte und wie ihren eigenen Sohn behandelte. Oft war er auch mit Ficio [Grzegorz Fitelberg] bei uns zum Mittagessen. Er wurde sozusagen Mitglied unserer Familie, und ich spürte, dass sich in meinem Leben etwas Bedeutendes ereignet hatte.”
Stefan Spiess, Wanda Bacewicz Ze wspomnień melomana (Aus den Erinnerungen eines Musikliebhabers),
Warschau 1963, S. 38.